Ganze Tage raus aus der Schule

Der Text "Ganze Tage raus aus der Schule" stammt von Oliver Ginsberg vom Landesverband Abenteuerspielplätze und Kinderbauernhöfe in Berlin (AKiB) und ist erschienen in "Platz da!" Heft 3-4/2002 - im Internet zu finden unter www.akib.de. Wir danken für die Genehmigung zur Veröffentlichung.

Ganze Tage raus aus der Schule !

Viele Argumente für die Ganztagsschule entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als Argumente für eine Stärkung der offenen Kinder- und Jugendarbeit

von Oliver Ginsberg

Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf, Zunahme von Ein-Kind-Familien und alleinerziehenden Elternteilen, Auflösung nachbarschaftlicher Kinderöffentlichkeiten, zunehmende soziale Integrationsanforderungen, Verinselung von Kindheit und Verlust an Spiel- und Erfahrungsräumen, unreflektierter Medienkonsum, formal höhere und sich wandelnde Anforderungen an das Qualifikationsprofil für den beruflichen Einstieg und die Chance zu einer differenzierteren, kindgemäßeren Gestaltung bzw. Rhythmisierung des Unterrichts sowie stärkere Lebenswelt-bezogenheit werden als Argumente für die flächenhafte Einführung der Ganztagsschule genannt.

Viele dieser Problemfelder sind bedeutsam und werden auch seit vielen Jahren in der Kinder- und Jugendarbeit als Argumente für die eigene Arbeit herangezogen. Sind also Einrichtungen der offenen Arbeit quasi natürliche Kooperationspartner von Schulen auf dem gemeinsamen Weg zur Ganztagsbetreuung? Oder sind sie lediglich Steigbügelhalter auf dem Weg zu ihrer eigenen Abschaffung? Sehen wir uns die Argumente etwas genauer an:

Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Trend zu Ein-Kind-Familien

Dies spricht für eine Ausweitung des Betreuungsbedarfs, angesichts sich wandelnder Arbeits-verhältnisse eher für flexible Betreuungsangebote, die individuellen Betreuungsbedarfen nachkommen und auch Wochenendbetreuung sowie Übernachtungsmöglichkeiten anbieten. Hier haben sich aufgrund der unflexiblen Angebote konventioneller Anbieter (auch im Bereich der Jugendhilfe) bereits kommerzielle Anbieter etabliert wie z.B. die Familien Service GmbH, in Berlin die Kinderinsel ( www.familienservice.de www.kinderinsel.de ). sowie Indoorspielplätze, die bis 22 Uhr geöffnet haben ( www.kilala.de ) Gerade die Anforderungen der Arbeitswelt an flexible Betreuungsangebote sprechen eher für solche kundenorientierte Dienstleistungsunternehmen und nicht für die klassischen „Bildungstanker“.

Alleinerziehende

Für Familien mit geringeren Einkommen und Alleinerziehende die sich solche kommerziellen Betreuungsdienstleister (Stundensätze zwischen 6.- und 10.- €, bei Indoorspielplätzen zwischen 3.- und 4.- € ) nicht leisten können oder wollen sieht es schon schwieriger aus. Grundsätzlich handelt es sich aber auch hier um eine Zielgruppe, die eher individuelle und kleinteilige, Betreuungsangebote bevorzugt in der Art von Kinderläden, Schülerläden etc.). Es ist allerdings anzumerken, dass die Zahl der formal Alleinerziehenden keinen Rückschluss auf die tatsächliche Lebenslage der Kinder zulässt. Hier kristallisieren sich oftmals Patchworkstrukturen aus verschiedenen – nur scheinbar vereinzelt lebenden - Kleinfamilienverbänden heraus, in denen die Kinder durchaus vielfältige Kontakte zu anderen Kindern knüpfen können und auch über einen längeren Zeitraum aufrecht erhalten. Projekte wie der Kinderbauernhof Mauerplatz sind gerade aus solchen Zusammenhängen heraus entstanden. Es ist zweifelhaft, dass die Ganztagsschule in jedem Fall ein adäquates Betreuungsangebot für diese Zielgruppe darstellt.

Auflösung nachbarschaftlicher Kinderöffentlichkeiten & soziale Integration

Tatsächlich ist mit der zunehmenden, zum Teil erwerbsbedingten Mobilität von Familien und mit deutlich sinkenden Geburtenraten auch ein tendenzielles Verschwinden nachbarschaftlicher Kinderöffentlichkeiten verbunden. Diese Kinderöffentlichkeiten lassen sich aber nicht dadurch ausgleichen oder wiederbeleben, dass Kinder zwangsweise ganztägig in Schulen konzentriert werden (auch nicht wenn sie von dort wiederum den Stadtteil erkunden sollen). Sinnvoller ist die Gestaltung bzw. Verbesserung nachbarschaftlicher Treffpunkte und Kommunikationsorte, die nicht nur für Kinder, sondern verschiedene Altersgruppen bzw. generationsübergreifend Aufenthalts-qualitäten besitzen. Gerade auf die Frage nach mehr sozialen Kontakten zwischen den Generationen können die Schulen nur äußerst beschränkte Antworten liefern. Wo ein lebendiges nachbarschaftliches Schulklima existiert, entsteht es aus Initiative von Lehrkräften, Eltern und/oder Schulleitungen heraus und ist nicht etwa eine Folge von Ganztagsbetreuung in der Schule.

Es ist ein klassischer Trugschluss, dass professionelle Formen von Kindererbetreuung an sich schon die soziale Integration fördern. Vielmehr birgt eine Professionalisierung sozialer Kontaktfelder die Gefahr einer schleichenden Aushöhlung nachbarschaftlicher, sozialer Netzwerke in sich. Eine Ausgewogenheit zwischen Professionaliät und Laienarbeit, zwischen erzieherischem Anspruch und Schutzfunktion einerseits, Lebensweltorientierung andererseits hat sich am ehesten in der offenen Kinder-, Jugend- und Nachbarschaftsarbeit entwickelt.

Verinselung von Kindheit und Verlust an Spiel- und Erfahrungsmöglichkeiten

So richtig diese Problemdiagnose ist, so wenig ist die flächendeckende Ganztagsschule eine angemessene Therapie. Überspitzt gesagt wird zunächst lediglich eine Vielzahl von Inseln (aber auch individuellen Wahlmöglichkeiten entsprechend den erzieherischen Vorstellungen der Eltern) durch eine Insel mit Monopolstellung ersetzt: die Schule! Abgesehen davon, dass dies das Wunsch- und Wahlrecht der Eltern untergräbt, wie es im KJHG formuliert ist – insofern ist schon die zentrale Verlagerung der rund 27.000 Plätze aus kommunalen Horteinrichtungen an die Schulen rechtlich zweifelhaft – wird hier auch einer Beschränkung von Spiel- und Erfahrungs-möglichkeiten weiter Vorschub geleistet, insbesondere soweit die real existierenden Schulen weder über die räumlichen noch materiellen und personellen Kapazitäten und Qualitäten verfügen, wie sie sich in jahrzehntelanger Praxis in der offenen Kinder-, Jugend- und Stadtteilarbeit insbesondere freier Träger entfaltet haben.

Insbesondere hinsichtlich der Möglichkeit zu Naturerfahrungen bieten die meisten Schulen nur wenig an, was den Spiel- und Entfaltungsbedürfnissen von Kindern im Schulalter – oft auch als Ausgleich zum fremdbestimmten Stundenalltag - gerecht wird: In wie vielen Schulen Berlin können Kinder Kontakt zu verschiedenen Tieren aufnehmen, eigene Hütten bauen, am Lagerfeuer Suppe kochen oder Stockbrot backen und auch mal im Wasser planschen und in der Erde buddeln? Den dramatischsten Verlust an Erfahrungsmöglichkeiten in Berlin seit der Nachkriegszeit macht der Rückgang landwirtschaftlicher Nutzfläche aus (rund -65%). Nicht von ungefähr haben sich seit Anfang der 80er Jahre die Kinderbauernhöfe entwickelt. Die Schulen, die ansatzweise solche Erfahrungsfelder bereitstellen, lassen sich in Berlin an einer Hand abzählen. Auch die Zahl der Kleingärten hat als Erfahrungsfeld deutlich abgenommen, wobei die klassischen Kleingarten-anlagen zugegebenermaßen auch oft nicht den Ansprüchen junger Familien- bzw Kernfamilienverbände gerecht wird.

Unreflektierter Medienkonsum

Gerade Schulen haben durch eine modische und unreflektierte Aufnahme neuer Medien schon in den Unterricht junger Jahrgänge mit dazu beigetragen, dass viele Kinder heute schon regelrecht als Medienjunkies bezeichnet werden müssen. Das zwanghafte „Sitzen müssen“ in der Schule findet darüber hinaus seine „natürliche“ Fortsetzung vor Fernseher, Videospiel oder Computer. Wenn heute schon 10-12 jährige Kinder in Internetcafés einen großen Teil ihrer Zeit und ihres Taschengeldes mit entmenschlichten, gewaltorientierten Videospielen verbringen, dann hat die frühzeitige Medialisierung des Schulalltags zumindest einen gewissen Anteil daran. Dagegen wurden vorgeblich „veraltete“ handwerkliche und gärtnerische Erfahrungsfelder in vielen Schulen dem Verwissenschaftlichungswahn geopfert. Die traurigen Erfolge eines solch einseitigen Bildungsverständnisses finden wir u.a. in den Ergebnissen der PISA-Studie bestätigt.

Nicht die generelle Ausweitung des Betreuungsanspruches von Schulen folgt daraus, sondern eine ernsthafte Besinnung auf die Entfaltungsbedürfnisse von Kindern. Diesen muss durch Nutzung aller verfügbaren Ressourcen im wohnungsnahen Umfeld Rechnung getragen werden. Das kann in einzelnen Fällen auch eine Ganztagsschule sein, soweit sie über die Ressourcen verfügt und eine entprechende kindgerechte Lern- und Spielkultur entwickelt hat. Es sind aber auch andere Modelle denkbar. Diese dürften in der Regel kostengünstiger sein. Statt „Ganze Tage in der Schule“ müsste viel eher „Ganze Tage raus aus der Schule“ das Schlagwort der Stunde heißen.

Gewandelte Anforderungen an das Qualifikationsprofil für den Berufseinstieg

Der Zugang zu klassischen Berufseinstiegen hat sich in den vergangenen Jahren erheblich verschlechtert – insbesondere für junge Menschen mit Migrationshintergrund, von denen sich in der entsprechenden Altersgruppe heute nur noch ein Drittel in einer regulären Ausbildung befindet (gegenüber 2/3 bei einheimischen) Die „Abfüllung“ von Kindern mit Wissen – das klassische Bildungsparadigma der Schule, wie es auch viele Eltern noch vertreten und in Form von Bildungsansprüchen an die Schulen herantragen, ist überholt. Nicht nur ist vieles an Wissen oft schon nach kurzer Zeit wieder veraltet, auch die Bedeutung von nicht-kognitiven Qualitäten, wie Eigeninitiative und Kooperationsfähigkeit, Selbstbewusstsein und Kreativität, die auf selbstmotivierten Spiel- und Lernprozessen aufbauen, nimmt zu. Hier bietet das lernstofflastige, lehrplanorientierte Schulsystem nicht nur keine Perspektive, sondern verbarrikadiert sie geradezu. Eine zwangsweise ganztägige Kasernierung in solche rückständigen Lernfabriken schränkt berufliche Perspektiven ein, anstatt gleichberechtigtere Zugänge zu schaffen.

Gefordert ist eine ganzheitliche Menschenbildung, die gleichzeitig einen festen Orientierungs-rahmen im Sinne menschlicher Grundthemen schafft, aber gleichzeitig die Neugier als innere Kraft zur Aneignung von Wissen weckt und die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen fördert. Die Schulen sind in der Regel weit von einem solchen Bildungsverständnis entfernt. Gerade staatliche, Schulen reproduzieren allzuoft traditionelle Klischees beruflicher Lebensentwürfe, die alles andere als zeitgemäß sind.

Chance zu einer kindgemäßeren Gestaltung des Unterrichts

Die Chance zu einer kindgerechteren Gestaltung des Unterrichts mit individuelleren Förder-möglichkeiten, die den jeweils eigenen Lernrhytmus der Kinder berücksichtigt, scheint unter allen Argumenten für eine Ganztagsschule das plausibelste zu sein und sollte unbedingt ernst genommen werden. Soweit die räumlichen, materiellen und personellen Potenziale gegeben sind, spricht tatsächlich vieles für eine Ganztagsschule, die lebensweltorientiert ist, Formen von Projektunterricht einbezieht, Zugang zu einer Vielzahl sinnlicher und sozialer Erfahrungen schafft und sowohl selbstinitiierte also auch partizipative Gestaltungsmöglichkeiten bietet.

Hier geht es aber um eine Art von Schule, für die der Begriff Ganztagsschule eine irreführende und in der öffentlichen Debatte wenig hilfreiche Bezeichnung ist und es geht um eine Schulform, die nicht per Ministeriumsbeschluss flächendeckend einzuführen ist (das ist im übrigen auch gar nicht zu bezahlen – allein der personelle Mehraufwand für die flächendeckende Ausstattung mit Gesamtschulen in Berlin liegt bei jährlich rund 1 Mrd €!), sondern die sich aus der Verantwortlichkeit und dem Engagement von Eltern, Lehrkräften und Schulleitungen, sowie anderen Interessierten entwickeln und sich durch vorbildhafte Bildungsergebnisse beweisen muss. Es ist wahrscheinlich, dass Schulen auf diesem Weg zu natürlichen Verbündeten von Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit werden, in denen das Grundrecht auf spielerische Entfaltung noch gepflegt wird.

Die augenblickliche Praxis scheint allerdings viel eher von dem (nachvollziehbaren) Wunsch nach Lehramtsstellenerhalt bei drastisch sinkenden Schülerzahlen (allein in den vergangenen 5 Jahren hat die Zahl der Grundschüler/innen um etwa 45.000 abgenommen) gesteuert als von den hehren Zielen reformpädagogischer Konzepte. Das erklärt auch, warum die Argumente zum größten Teil einer kritischen Prüfung nicht standhalten. Die Entwicklung läuft unter den Rahmenbedingungen aktueller Haushaltsengpässe außerdem ebenso, wie die haarsträubende Expansion der Hilfen zur Erziehung auf eine Ausblutung der Substanz offener Kinder- und Jugendarbeit hinaus.

Die weitgehende Einengung von Betreuungsangeboten auf das staatliche Bildungssystem untergräbt das im Jugendhilferecht garantierte Wunsch- und Wahlrecht, das Subsidiaritätsprinzip und die politisch deklarierte Übertragung von Betreuungsverantwortung an freie Träger. Es kann von Trägern der offenen Kinder- und Jugendarbeit nur schwerlich erwartet werden, dass sie ernsthaft an einer solchen Selbstvernichtungspolitik mitwirken.

Andererseits ist das politische Gewicht der Jugendarbeit nicht so stark, dass sie sich der fürsorglichen Belagerung entziehen könnte. Ernstgemeinten Kooperationsvorschlägen sollte sie sich schon gar nicht verweigern. Indessen gilt es, bestehende Handlungsmöglichkeiten auszuschöpfen, sie nach Möglichkeit zu erweitern und dazu auch Bündnispartner jenseits bisheriger Allianzen zu suchen. Dabei sollten sich die Einrichtungen auch eine gehörige Portion Selbstkritik zumuten. Nicht für alle Missstände in der Jugendarbeit ist die Politik verantwortlich.


Druckbare Version