Wissenschaft

Brief Preissing/Tietze

Der nachfolgende offene Brief wurde von 2 renommierten Berliner Erziehungswissenschaftler/innen anläßlich des Bekanntwerdens der Kitakürzungspläne der rot-roten Koalition verfaßt.



Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister Wowereit, sehr geehrter Herr Bürgermeister Dr. Gysi, sehr geehrter Herr Senator Böger,

das Land Berlin beteiligt sich an einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend initiierten „Nationalen Qualitätsinitiative im System der Tageseinrichtungen für Kinder“ (Laufzeit 2000 bis 2003) in zwei Teilprojekten. In beiden Forschungsprojekten werden auf wissenschaftlicher Grundlage und gemeinsam mit Fachkräften aus der Praxis Qualitätskriterien für die pädagogische Arbeit erarbeitet sowie Instrumente und Verfahren für die interne und externe Evaluation entwickelt und erprobt. Ziel ist die kontinuierliche und systematische Sicherung und Weiterentwicklung der Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsqualität der Arbeit in den Kindertagesstätten. Die Unterzeichnenden verantworten die wissenschaftliche Leitung der beiden Teilprojekte und haben vom Bund und den beteiligten Ländern, also auch von der Berliner Landesregierung, den Auftrag, für die Umsetzbarkeit ihrer Forschungsergebnisse auch unter pragmatischen Gesichtspunkten Sorge zu tragen.

Dieser Teil des Auftrages ist Anlass für unser Schreiben. In der Koalitionsvereinbarung kündigen Sie an, die Personalkosten in Kitas um 10% zu kürzen. Dies soll erreicht werden durch eine Reduzierung der Stellenanteile, die für Leitungstätigkeit vorgesehen sind, durch eine Absenkung des Personalschlüssels im Hort sowie durch eine teilweise Anrechnung der Arbeitszeit der Jahrespraktikant/inn/en auf den Personalschlüssel.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist festzustellen, dass diese Kürzungen gravierenden Einfluss auf die Möglichkeiten einer systematischen und kontinuierlichen Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität haben werden. Der bisherige Stand der Forschung in beiden Teilprojekten sowie die Ergebnisse vorangegangener Studien machen deutlich, dass einer qualifizierten Leitung die zentrale Rolle im Prozess der Qualitätsentwicklung und –sicherung zukommt. Der Kita-Leitung obliegt, die Fachlichkeit aller pädagogischen Mitarbeiter/innen sicher zu stellen, die Erzieher/innen bei der Planung einer auf die individuelle Lebenslage der Kinder bezogenen pädagogischen Arbeit zu unterstützen und die fachliche Reflexion pädagogischer Prozesse zu initiieren und anzuleiten. Zu ihren Aufgaben gehört, Verständigungs- und Abstimmungsprozesse mit den Eltern in Gang zu bringen und deren Resultate in die konzeptionelle Arbeit zu integrieren. Diese Schnittstelle zwischen Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kita einerseits und Familienleben andererseits bekommt herausragende Bedeutung, insbesondere mit Blick auf den familienergänzenden Auftrag der Kitas und ihrer Aufgabe, Chancengleichheit zu fördern. Dass in einer multikulturellen und sozial so heterogenen Lebenswelt, wie Berlin sie darstellt, hierin besondere Herausforderungen liegen und besondere Anstrengungen erforderlich sind, ist offensichtlich und wird nicht zuletzt durch die Ergebnisse der PISA-Studie belegt.
Aufgabe der Leitung ist, die effiziente Nutzung der vorhandenen Ressourcen zu organisieren, sie an sich ändernde Anforderungen anzupassen sowie die erzielten Wirkungen zu prüfen.
Hierzu gehören auch die Vernetzung mit anderen sozialen Diensten im Stadtteil, die Kooperation mit anderen Kitas im Einzugsbereich, die Beteiligung an der Jugendhilfeplanung sowie eine enge Abstimmung mit dem Träger.
Um zu einem gelingenden Übergang der Kinder in die nächste Stufe des Bildungssystems beizutragen, sind kontinuierliche Abstimmungen mit den Grundschulen des Einzugsbereichs zu organisieren.

Die Managementaufgaben in einer Berliner Kita sind in der Regel mit denen eines Unternehmens vergleichbar. Sie werden im Zuge der weiteren Umsetzung neuer Steuerungsmodelle noch umfangreicher.

Es ist angesichts der Fülle und der Komplexität von Leitungsaufgaben, die unverzichtbar für ein angemessenes Qualitätsmanagement sind, unverantwortlich, die hierfür zur Verfügung stehenden Personalbudgets zu kürzen.


Die vorgesehenen Personalkürzungen im Hort sind unter bildungspolitischen Gesichtspunkten auf ihre Konsequenzen zu prüfen. Die PISA-Studie hat offen gelegt, dass unser Bildungssystem aus ungleichen soziokulturellen Lebenslagen resultierende Bildungsbenachteiligungen entgegen erklärter Absicht nicht ausgleicht. In keinem anderen der untersuchten europäischen Länder reproduziert das Bildungssystem Chancenungleichheit in dem Maße, wie es in der Bundesrepublik der Fall ist. Das ist für jeden sich demokratisch nennenden Staat ein Skandal. Das Bundesjugendkuratorium fordert in seiner „Streitschrift Zukunftsfähigkeit“ aus genau diesem Grund verstärkte Anstrengungen der Jugendhilfe, den weniger privilegierten Kindern und Jugendlichen informelle und nichtformelle Bildungsmöglichkeiten zusätzlich zur Schule zu erschließen. Dies bezieht sich auf die Kita als wesentlichem Bestandteil der Jugendhilfe insgesamt, also auch auf den Hort. Hier zu „sparen“ heißt - jedenfalls solange keine überzeugenden flächendeckenden Konzepte für die Grundschule vorliegen, die den Bildungsbenachteiligungen entgegen wirken - ,die Schere zwischen Bildungsprivilegien und Bildungsbenachteiligungen weiter zu öffnen. Ihre Regierung muss sich fragen lassen, ob sie das verantworten will.


So wie die Erzieher/innen-Ausbildung in Berlin derzeit strukturiert ist, macht das Jahrespraktikum ein Drittel der gesamten Ausbildung aus, einer Ausbildung die bereits jetzt deutlich unter dem in Europa üblichen und von wissenschaftlicher Seite seit langem geforderten Niveau liegt. Die fachliche Anleitung der Praktikanten und Praktikantinnen durch erfahrene Fachkräfte, so wie sie das Ausbildungskonzept vorsieht, ist in der Praxis aus vielerlei Gründen unzureichend. Darin sind sich Ausbildungsstätten wie Praxis einig. Es erscheint in diesem Zusammenhang absolut kurzschlüssig und unkoordiniert, jetzt eine Kürzung der im letzten Ausbildungsdrittel einzusetzenden Mittel vorzuschlagen. Das Zeitbudget der Praktikanten-anleiter/inn/en zu kürzen und statt dessen Auszubildende, die noch keine anerkannten Fachkräfte sind, einzusetzen widerspricht dem Fachkräftegebot ebenso wie allen Analysen und Vorschlägen zu einer dem Praxisfeld angemessenen Ausbildung. Der zuständigen Senatsverwaltung ist dies hinlänglich bekannt und wir wissen um entsprechende Bemühungen, zu einer anderen Ausbildungsstruktur zu kommen. Erst anlässlich eines Expertenhearings der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung am 8. Januar im Roten Rathaus hat Ihr Staatssekretär Härtel hierzu Stellung genommen.


Sehr geehrte Herren: Es geht uns nicht um die Durchsetzung irgendwelcher Partikularinteressen. Wir wissen sehr wohl um die Notwendigkeiten, den Berliner Haushalt auch durch unpopuläre Maßnahmen sanieren zu müssen. Als Bürger/innen dieser Stadt und in unserer Verantwortung als Wissenschaftler/innen fordern wir Sie auf, die von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen zu überdenken und fachlich vertretbare Lösungen zu suchen, wenn es gilt die angestrebten Einsparungen zu erzielen. Sie können und müssen Ihnen und uns das Interesse am Gemeinwohl in dieser Stadt ebenso unterstellen wie ihr fachliches und politisches Engagement in ihrem spezifischen Handlungsfeld. Und Sie können und müssen Ihnen und uns sehr wohl zumuten, sich an der Lösung der schwierigen Aufgaben, vor denen Sie wie wir stehen, direkt zu beteiligen.

In der Hoffnung, dass sie sich einem demokratischen und fachlich fundierten Diskurs nicht verschließen werden und mit freundlichen Grüßen


Dr. Christa Preissing, Projekt „Qualität im Situationsansatz“, INA gGmbH an der FU Berlin, Institut für interkulturelle Erziehungswissenschaften
Prof. Dr. Wolfgang Tietze, PädQuis gGmbH, Freie Universität, Institut für Kleinkindpädagogik

Berlin, den 30. Januar 2002

Druckbare Version