Brief B. Ammann, Komsu

Sehr geehrte Frau Abgeordnete Barth, sehr geehrte Frau Abgeordnete Müller,
sehr geehrter Herr Senator Böger, sehr geehrter Herr Staatssekretär Härtel,

große Politik können Familien nicht machen, trotzdem hoffe ich, dass Sie sich einen Moment Zeit nehmen, in eine Perspektive einzutauchen, die viele Eltern von immerhin 36.000 Berliner Kindern mit mir teilen.
Ich gehe davon aus, dass Ihnen bewusst ist, dass das Gesamtkonzept Ganztagsbetreuung die faktische Abschaffung der bestehenden außerschulischen Betrreuungseinrichtungen für Schulkinder bedeutet. Ich gehe allerdings auch davon aus, dass Ihnen nicht bewusst ist, was hier eigentlich zerstört werden wird.

Der Kreuzberger Schülerladen Komsu, den meine Tochter besucht ist hierfür ein Paradebeispiel: Ihrem Namen getreu (Komsu heißt auf türkisch Nachbar) hat sich im Lauf der Jahre um die Kindertagesstätte eine kleine multiethnische Community herausgebildet. Demnächst wird der Nachwuchs ehemaliger Komsu-Kinder die Kinderläden besuchen. Komsu integriert bewusst und aktiv Prominentenkinder und Flüchtlingskinder, Kinder strenggläubiger Kopftuchträgerinnen und Kinder von Katholiken, Aleviten und Atheisten; Kinder mit deutschem, türkischem, kurdischen, arabischen und anderem Hintergrund; etliche Kinder aus bikulturellen Familien - so übrigens auch mein Kind. Der Komsu Schülerladen liegt wie etliche andere engagierte und hochkompetent geführte Schülerladen in dem verarmten Teil Kreuzberg, wie er immer wieder durch die Presse geht (jedes dritte Kind bezieht Sozialhilfe). Er ist und war in seinem Konzept eine gesellschaftliche Zukunftsinvestition.

Komsu hat sich und den Familien im Kiez erst vor kurzem den Standort Pauli am Paul-Lincke-Ufer hart erkämpft. Die Verlagerung an die Schule empfinden viele Eltern als "Einpferchen unserer Kinder in den Schulbetrieb", die arbeitsorganisatorische Umsetzung des Konzept wird in höchstem Maße angezweifelt, ein Qualitätsstandard ist nicht zu erkennen. Das in unserer Gesellschaft häufig gering geschätzte Potential und Engagement vieler Familien nichtdeutscher Herkunft wird verloren gehen, sobald das vertraute Umfeld entzogen wird, in dem die Verständigung und die Integration funktioniert.
Aus Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass viele Familien, deren Kinder Einrichtung wie Komsu gerade nach der Einschulung besucht haben und besuchen ohne die soziale Anbindung an das beschriebene Umfeld weit mehr ins soziale Abseits gerutscht wären als dies vielleicht ohnehin der Fall ist.
Kindern, die Komsu und viele andere vergleichbare Einrichtungen besuchen, wird immer wieder eine ausgeprägte Sozialkompetenz und eine hohes Maß an interkultureller Kompetenz bescheinigt - Schlüsseleigenschaften für die Zukunft unserer Gesellschaft.
Wir können und wollen uns einfach nicht vorstellen, dass soziale Räume dieser Art mitsamt ihrer seit Jahren funktionierenden Infrastruktur, ihren Erzieher(inne)n und nicht zuletzt auch ihrer Historie wegfallen sollen. Wir haben wiegesagt auch nicht den Eindruck, dass Ihnen bewusst ist, was hier zerstört wird.
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Ich persönlich finde besonders ärgerlich, dass die Planung so angelegt erscheint, dass der beschriebene Verlust sich von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt "anschleicht". Auch lässt die Verschränkung und Verflechtung von Zuständigkeiten Betroffenen kaum mehr Handlungsmöglichkeiten. Insbesondere sozial Schwache und Migranten – Umstände, die sich in Kreuzberg häufig decken, sind überfordert und werden von den Entwicklungen überrollt werden.

Bitte verstehen Sie dieses Schreiben als offenen Brief, über dessen Weiterverbreitung ich mich freuen würde, verstehen Sie ihn bitte auch als herzliche Einladung, sich vor Ort in einer der betroffenen Einrichtung ein Bild der sozialen Realität zu machen.


Mit freundlichen Grüßen

Birgit Amman

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